Herzlichen Dank allen Gesprächsbereiten!

Bisher haben sich über 50 Interessenten gemeldet. Vier Interviews und einige Vorgespräche konnten bereits geführt werden.
Jede einzelne Begegnung hat den Sinn dieser Sammlung individueller Geschichten nachdrücklich bestätigt. Als Beleg der vielschichtigen Eindrücke finden Sie im Folgenden Auszügen aus Gesprächen, Briefen und persönlichen Dokumenten.

Brief einer jungen Leipzigerin an ihre Familie

Dieser Brief wurde zur Vorsicht an Bekannte in der Nachbarschaft gesendet, um nicht „abgefangen“ zu werden. Er erreichte die Familie erst nach dem 9. Oktober. Trotzdem ging die Mutter am Abend zur Demo. Sie hat ihre Geschichte bereits erzählt.

Erster Teil:

Paderborn, den 6. Oktober 1989 

Ihr 3 Lieben zu Hause!

Hier, auf meiner Zwischenstation in Paderborn habe ich das erste Mal Zeit, mich ausführlicher bei Euch zu melden. Es gibt sooo viel, was ich Euch berichten könnte, aber ich will alles der Reihe nach erzählen.

Der Zug ging am Dienstag 0.48 ab Leipzig. So voll habe ich noch keinen Zug bei uns erlebt. Die Abteile bis zum Platzen voll, die Gänge waren mit Kinderwagen gefüllt, so dass man nicht einmal zum Klo gekommen ist. Jeder hat dem anderen ein Märchen erzählt, wo er hin wollte. Aber alle haben gewusst, dass die meisten in Prag aussteigen oder nach Ungarn weiterfahren. Von 5.00 bis 7.25 haben wir in Bad Schandau an der Grenze gestanden. Dort haben die Bullen den Zug von vorn nach hinten durchgekämmt und alle Familien mit Kindern aus dem Zug geholt. Ohne Begründung und teilweise mit Gewalt. Wir waren der vorletzte Waggon, der dran war. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, dass ich auch aussteigen muss. Bei der riesigen Fahndungsliste! Gott sei Dank, war das nicht der Fall! Als wir über die Grenze sind, hat sich bei circa 80% der Leute die Angst aus dem Gesicht gelöst. Auf einmal hatte jeder ein anderes Ziel als vorher.

Gegen 10.00 sind wir in Prag angekommen. Bei uns hat sich eine Gruppe von 30 bis 40 Männern und Frauen gesammelt. Darunter einer, der sich in Prag auskannte. So sind wir dann im Laufschritt zur Botschaft – mit Schweißperlen auf der Stirn an den Bullen vorbei. Vor der Botschaft hatte sich schon wieder eine riesige Traube von Menschen gesammelt. Wir haben dort circa eine dreiviertel Stunde gestanden, da hat einer von drinnen einem Kumpel draußen immer zugerufen, dass er über den Zaun soll, weil sie keine Leute mehr rein lassen.

So ist auf einmal eine Gruppe von circa 200 Leuten los und wir per Zufall mit an der Spitze. So haben wir im Laufschritt 500 m  zurückgelegt und eine Absperrung umgerannt… Am Zaun ging dann alles so schnell, dass man gar nicht groß zum Überlegen gekommen ist. Hinter uns eine Masse, die einen umgerannt hätte, wenn man stehen geblieben wäre und 200 m - 300 m vor uns die Bullen, die zu unserem Glück nicht aus der Knete gekommen sind. Ich hätte nie gedacht, dass ich die Kraft hätte über einen Zaun von 2,50 m bis 3,00 m zu klettern. Aber von drinnen waren sofort Männer da, die einem geholfen haben. Tasche über den Zaun, den Fuß in die Hand der Leute von drinnen, hochziehen, draufstellen und wieder runter springen. Alles eine Sache von höchstens 30 Sekunden bis höchstens eine Minute. Und dann war man in der Botschaft, ohne es richtig zu begreifen, ohne Puste, mit Herzklopfen und mit dem Glücksgefühl, es geschafft zu haben.

Brief, zweiter Teil

Was in der Botschaft los war, kann keiner begreifen, der nicht selber dort gewesen ist. Jeder hat sich um jeden gesorgt und alle haben zusammengehalten. Mit einer Selbstverständlichkeit haben alle ihre Forint, Kronen und DDR-Mark für das Rote Kreuz gespendet. In allen Fällen waren das 500 – 1200 Mark! Von jedem! Sonst hat man keine 0,50 Mark Soli bezahlt. Obwohl die Botschaft total überfüllt war, gab es rund um die Uhr warmes Essen und Trinken. Etwas, woran die DDR gescheitert wäre.

Gegen 18.30 wurde verkündet, dass wir ausreisen dürfen. So gejubelt hatte bis jetzt. Aber leider zu früh, da die Reichsbahn die Züge nicht bereitstellen konnte. So haben wir die Nacht vom Dienstag zum Mittwoch mit einem Schlafsack unter freiem Himmel verbracht. Ohne Schlaf und am Morgen glücklich, dass sie zu Ende war.

Am Mittwochnachmittag ging es dann los. Die ersten Busse fuhren ab. Wir sind gegen 22.00 aus der Botschaft, der Zug fuhr 1.00 ab. Als in Plauen die Stasi aus dem Zug raus ist, haben einige noch versucht, in den Zug zu kommen. Für viele leider erfolglos. Nur drei haben es geschafft.

Dann ging es im Eiltempo weiter über die Grenze!!! Alle waren überglücklich. Die Tränen liefen bei fast allen. Niemand hat mehr daran gedacht, dass er am Montagmorgen aufgestanden ist und seit dem nicht mehr geschlafen hat; vergessen die Kälte der Nacht, die blauen Flecken, Schrammen und die Angst der letzten Tage. Erst recht, als wir im ersten Dorf Halt machten und dort begrüßt wurden. Herzlicher ging es gar nicht. Mit einer Selbstverständlichkeit hat jeder von zu Hause Tee, Kaffee und anderes mitgebracht und oft mehr als 10 Stunden an der Strecke gestanden und auf die Züge gewartet. So sind wir nach Hof und dann nach Paderborn gekommen. Morgen oder übermorgen geht es weiter nach Gießen oder Schöppingen, wo alle Formalitäten erledigt werden.

Sobald ich dann weiß, was ich weiter mache, melde ich mich wieder. Dann können wir alles weitere (Sachen usw.) in Angriff nehmen.

Viele liebe Grüße, auch an alle anderen, senden Euch Eure C.

Überlegungen zur Realität einer Legende

(Auszug aus der im August 1990 entstandenen Reflektion über die zurückliegenden Monate eines in der Opposition und dem Neuen Forum engagierten Leipzigers.) 

Leipzig, die sächsische Messe- und Industriemetropole, die wahre Hauptstadt der DDR, wie Uwe Johnson 1967 sagte; Leipzig das Dreckloch, mit dem traurigen Ruhm, dreckigste Großstadt Europas zu sein; Leipzig, die vernachlässigte Provinz, mit verfallenen Vorstädten, dem allgegenwärtigen Grau der Stagnation, dem angepassten Mief sächsischer Spießigkeit, Leipzig, wo alles in einer gewissen liberalen Schlampigkeit ablief, einer gelangweilten resignierten Normalität, wo alle Bescheid wussten und alle mitmachten, wo Weggehen als einzige Alternative galt, angesichts des Unabänderlichen – dieses entpolitisierte, opportunistische Leipzig wurde im Oktober 89 auf einen Schlag zum Drehpunkt geschichtlicher Bewegung, wurde als „Hauptstadt der Revolution“  und als „Heldenstadt“ gefeiert. Jetzt hat dort das Arbeitsamt seinen Sitz.

Mit fast einem Jahr Abstand nun, will ich versuchen, dem nachzudenken, was war, Ursachen suchen, Entwicklungen verfolgen bis zu dem, was ist. So unvollständig und subjektiv dieser Versuch notgedrungen auch sein wird, er ist notwendig, denn das Verdrängte kehr wieder, nicht nur als Neurose.Als Christoph Hein den Slogan von der Heldenstadt Leipzig unters, für solche Töne empfängliche Volk brachte, gehörte es in Leipzig schon zum guten Ton am Montag abends um den Ring zu promenieren. Da waren die „Spaziergänger von Leipzig“ schon unterwegs, wie sie Biermann treffend nannte, deren politischer Horizont sich spätestens bis Ende November 89 auf die beschwörende Formel „Deutschland, einig Vaterland“ verkürzt haben sollte. …

In der Zeit davor schwiegen die künftigen Helden, kuschten in ihre privaten Ecken, trotteten zu den Aufmärschen, kamen über das landläufig nölende Bewusstsein nicht hinaus. Allgemein bekannter Wahlbetrug, Verhaftungen samt landesweiter Hetzkampagne, die China-Erklärung der Volkskammer – all das konnte die dumpfe Gleichgültigkeit dieses Volkes, trotz Gorbatschow, nicht erschüttern.
Da waren es immer nur einige Hundert, die in die Kessel getrieben, geprügelt und zugeführt wurden. Oder einzelne, wie ein LKW-Fahrer aus einem kleinen sächsischen Ort, der mit einem Schild in der Fahrerkabine gegen die Verhaftungen zur Luxemburg-Liebknecht-Demonstration protestiert hatte und dafür ins Gefängnis wanderte – ein Held, nach dem kein Hahn krähte. Damals waren Helden nicht gefragt, auch im Westen nicht. Sie passten rechts wie links nicht ins Konzept. Der Honecker-Besuch lag erst kurze Zeit zurück, die bundesdeutschen Partei- und Wirtschaftsführer gaben sich die Klinke in die Hand bei den hiesigen Machthabern. Da hatten es die paar unbelehrbaren Helden schwer.  …

aus einem Gespräch

1989 war ein aufregendes Jahr, weil ich die Anspannung schon bei Zeiten mitbekam. Ich habe im Buchhaus Leipzig gearbeitet, im Fuhrpark. Und dort waren viel männliche Kollegen bei der Kampfgruppe. Die haben von ihren Einsätzen erzählt und es wurde heftig darüber diskutiert. Aber vom Grund her waren sich viele einig, dass man fast nichts ändern kann. Bis dann die Montagsdemonstrationen gekommen sind.

Ich hab das über die Arbeit erfahren von einem Kollegen. Er hat gesagt: „Komm doch mit, Du bist doch auch mit vielem nicht einverstanden.“ Ab August war ich dabei. Aber das war auch irgendwie gespenstisch.  … da kamen die Rufe „Wir wollen raus“. Aber eigentlich wollte ich nicht weg, weil ich bodenständig bin. Ich wollte hier bleiben. Ich wollte hier etwas verändern. Ich wollte nie in ein anderes Land. Das war, ist und bleibt mein Heimatland, obwohl ich hier mit vielem nicht einverstanden gewesen bin.  Und das war für mich der Punkt, an dem ich mir gesagt habe, du musst auch montags regelmäßig mit auf die Straße gehen, damit du was veränderst.

Und am 9. Oktober früh saß mir im Büro ein Kollege gegenüber, der immer aktiv in der Kampfgruppe war und hat mich gefragt: „was mache ich denn, wenn heute Abend der Schießbefehl kommt“. Das heißt, die Leute von den Kampfgruppen, die wussten das schon.

Da habe ich gesagt, "dass musst Du selber wissen. Wenn ich vor Dir stehe, musst Du entscheiden, schießt Du oder schießt Du nicht.“ Er saß vor mir und hat geheult und wusste nicht, was er machen soll. Es war schlimm.

Wir sind am Montag, am 9. Oktober wieder zur Demonstration gegangen. Was dort war, kann man nicht beschreiben. Wir haben Gänsehaut gehabt…

Ohrenzeuge

Tja, wo habe ich den 09.Oktober 1989 verbracht? Sehr traurig, mit ganz viel Wut im Bauch, mit reichlich Angst und plötzlich einem Schauern, Freude und viel Zuversicht!
Als am 09. Oktober 1989, die lauten Rufe und Geräusche, der zahlreichen Demonstranten vom Leipziger Ring, in den kleinen „schumrigen“, mittelalterlich anmutenden Raum, von höchstens 2 x 4 Metern eindrangen, war das schon ein sehr erhebendes Gefühl! 
Durch das Fenster, mit der kleinen Holzklappe und den schmutzigen Glasziegeln, drang schon am Tag kaum Licht ein und der Wind pfiff ständig durch! Das hatte wiederum den Vorteil, die Geräusche von draußen, drangen jetzt gut an unsere Ohren! Ich sah meinen Zellennachbarn an und wir lächelten uns zu! Die vielen Erniedrigungen und Verhöre der letzten Wochen, verloren auf einmal an Gewicht! 
„Es sind mehr geworden! Es sind wieder viel mehr geworden! So laut wie sie rufen, ganz eindeutig! ...Und heute muss ja Montag sein, vielleicht 18, oder 19 Uhr" ....Was für ein beflügelndes Gefühl ...!